Die Sage vom Drachenstein

Es gab einmal eine Zeit, da kannten die Menschen das Flüstern der Bäume besser als das Klimpern von Münzen, und der Wind, der über die Seen strich, trug Geschichten von Tieren, Geistern und uralten Göttern mit sich. Der Pilatus – schroff, wild und oft in Nebel gehüllt – thronte über dem Tal von Alpnach wie ein schlafendes Ungeheuer. Keiner wagte sich zu weit hinauf, denn alle wussten: In seinem Innern hausen Drachen.

Man sagte, die Drachen hier seien älter als das Gestein selbst. Tief in den Höhlen des Berges schliefen sie und erwachten nur dann, wenn die Welt aus dem Gleichgewicht geriet – wenn Habgier, Zorn oder Hochmut sich übers Land breiteten. Dann, so glaubte man, schickte der Pilatus seine Wächter hinaus: Drachen mit Schuppen wie geschlagener Mondstein, Augen hell wie Sternenlicht und Flügeln, stark genug, um das Wetter zu wenden.

Im Sommer des Jahres 1421, als die Sonne wochenlang wie ein brennender Feuerball am Himmel stand und die Quellen versiegten, geschah etwas, das niemand erklären konnte.

Ein schlichter Älpler, Hans Stempflin aus Kriens, trieb wie jedes Jahr seine Kühe auf die Alpweiden. Doch an diesem Nachmittag legte sich eine unheimliche Stille über die Hänge. Kein Vogel sang, kein Kuhglockenklang hallte durchs Tal – nur das Summen der drückenden Hitze lag in der Luft.

Da legte sich ein gewaltiger Schatten über die Alp. Ein Drache – grösser als jedes Wesen, das je die Erde betreten hatte – stürzte aus zerrissenen Sturmwolken herab. Seine Schuppen glühten in Farben von feurigem Rot bis tiefem Violett. Mit einem Donnerknall krachte das Ungetüm in die Felsen oberhalb des Eigentals.

Hans wurde zu Boden geschleudert, das Herz hämmerte ihm in der Brust – und dann wurde alles schwarz.

Als er Stunden später erwachte, war der Himmel wieder klar, als sei nichts geschehen. Vom Drachen keine Spur – kein Knochen, kein Flügelschlag, kein Brüllen. Nur zwei Dinge lagen noch da: ein dunkler, klebriger Klumpen Blut, der nach Eisen und Erde roch, und ein leuchtender Stein, so klar wie Bergkristall, doch in seinem Innern glomm ein flüssiges Licht aus einer anderen Welt.

Hans nahm den Stein mit – und bald flüsterte man seinen Namen in ganz der Zentralschweiz. Denn wo immer der «Drachenstein von Alpnach» aufgelegt wurde – auf Wunden, auf fieberheiße Stirnen oder auf schmerzende Herzen – da geschah Heilung. Nicht nur der Körper, auch die Seele schien leichter zu werden.

Gelehrte reisten aus Luzern an. Sie untersuchten ihn, wogen ihn, mahlten kleine Splitter im Mörser – und bestätigten, was die Bauern längst wussten: Dieser Stein war kein gewöhnliches Mineral. Er war das Herz eines uralten Wesens. Ein Geschenk – oder vielleicht eine Warnung.

So wurde der Drachenstein zum geheimen Schatz der Region. Manche sagten, er sei das Herz des Drachen selbst – ein letzter Funke Weisheit, bevor er verschwand. Andere glaubten, der Drache sei gar nicht gestorben, sondern habe sich in den Stein verwandelt, um den Menschen nahe zu bleiben.

Seither blieb der Gipfel des Pilatus lange Zeit unberührt. Aus Ehrfurcht vor den uralten Wächtern wagte niemand mehr hinaufzusteigen. Und wenn der Wind über die Grate pfeift und der Nebel aus den Schluchten steigt, dann flüstern die Alten in Alpnach noch heute:

«Er ist noch da – er schläft. Und der Stein wacht über uns.»